Rerik – Backsteingotik in bunt & mit Uecker-Glocken

Kommentare 0
Allgemein

Rerik – Backsteingotik in bunt & mit Uecker-Glocken

Habe ich schon einmal gesagt, dass ich die Backsteingotik liebe und dass es sie extrem vielfältig im gesamten Ostseeraum gibt?
Ja, ich weiß, natürlich habe ich das.
Bei der Backsteingotik, mehr noch aber bei der Romanik, ist es vor allem das Raumgefühl, das mich fasziniert. Spärliche Ausstattung, feste Säulen mit einer Bodenhaftung, die hält, und einer Höhe, die einen freigibt und entlässt. Jeder Schmuck ist eigentlich zu viel für meinen Geschmack. Schlichter, gestalteter Raum als solcher, das liebe ich.
Das ist leider gar nicht mehr so oft zu finden. Über die Jahrhunderte ist viel an Zerstörung und „Modernisierung“ an den Kirchen geschehen – vor allem auch im 30-j. Krieg. Für mich ein Graus sind vor allem barocke Altäre und Figurengruppen, die extrem oft in mittelalterlichen Kirchen zu finden sind. Sie ziehen alle Aufmerksamkeit auf sich mit ihrer äußeren Verspieltheit und Üppigkeit und zerstören mit ihrer oft sehr ausgeprägten Dekolust das reine Raumgefühl. Einzelne barocke Elemente können sich durchaus noch als Einzelstücke positiv auf das Raumgefühl auswirken, aber oft sind die mittelalterlichen Kirchen für meine Geschmack barock vermüllt.
So öffne ich die Türen zu diesen alten Kirchen immer eher vorsichtig, wappne mich und luge dann prüfend ins Innere …
Als ich die bekannte Backsteinkirche in Rerik – St. Johannes – betrat, entfuhr mir unwillkürlich ein unkontrollierter Ausdruck der Verblüffung, und ich versuchte, fassungslos und mit offenem Mund einzuordnen, was ich da sah …

Die Pfarrkirche St. Johannes im Ostseebad Rerik – ein frühgotischer Bau, entstanden 1250 und 1270 – war mit seinem Turm und der „Bischofsmütze“ genannten Spitze für Schiffer und Fischer eine überlebenswichtige Landmarke.
Die Kirche gehört zu den Juwelen der Backsteingotik des Landes – und wird gerühmt als Dorfkirche von barocker Schönheit.
Backsteingotik – barocke Schönheit: Was für ein Widerspruch! Spagat – oder was?

St. Johannes wurde im Inneren im 17./18. Jahrhundert vollständig umgestaltet.
Der freundliche Ehrenamtliche, der in der Kirche wachte und Auskunft gab, erzählte mir, dass der Barockmaler Hinrich Greve 1668 alle Wände und Gewölbe der Kirche in beeindruckender Farbigkeit bemalte. Er tat dies auf die Bitte des damaligen Pastors, der seiner Gemeinde nach Pest und 30-j. Krieg etwas Aufmunterung und Freude bereiten wollte.
Im 18. Jahrhundert wurde die spätbarocke Ausstattung vom Altar bis zur Orgel komplettiert: Altar, Orgel, Patronatslogen, Taufengel über dem Altar, Beichtstuhl etc. Die barocke Wandmalereien wurden im 19. Jahrhundert fast vollständig weiß übertüncht und erst in den Jahren 1971-1976 wieder freigelegt.

Also – es ist schon alles sehr bunt, perspektivisch wild und im Ganzen überwältigend …
Was mich angeht: Ich muss gestehen, dass das „Gesamtkunstwerk“, das St. Johannes darstellt, so ungewöhnlich ist, dass ich mich letztlich – mit einem lachenden und einem weinenden Auge – der Faszinationen dieses Clashes der Stile nicht entziehen konnte …

 

Achteckiges Mausoleum, 1858 aus Backstein errichtet

Bis dahin: so weit – so „mittelalterlich unauffällig“ … Und dann die Überraschung …

Altar mit Taufengel: Auf Wunsch wird bei Taufen der Engel herabgelassen und das Wasser in dem Gefäß in seinen Händen bereitgehalten.

Die beiden verbliebenen von ursprünglich vier Patronatslogen

Rechts an der Kanzel hängt eine vierteilige Sanduhr aus dem 17. Jahrhundert, die dem Pastor und der Gemeinde die Länge der Predigtzeit anzeigte … Interessante Idee …

Ehemaliges Triumphkreuz – um 1500. An den Kreuzarmen befinden sich Medaillons mit gemalten Evangelistensymbolen. Darunter eine Tauf-Fünte aus Kalkstein, Ende des 13. Jahrhunderts

Schnitzaltar aus dem dritten Viertel des 15. Jahrhunderts: Mit der zentralen Kreuzigungsszene war er der ehemalige Hauptaltar. Die Altarflügel und die Predella sind verloren gegangen.

Auf dem Weg zur Turmspitze

89 Stufen führen auf den Kirchturm mit seiner schönen Aussicht – und zu den vom Maler und Objektkünstler Günther Uecker künstlerisch gestalteten Glocken. Uecker wuchs auf der Halbinsel Wustrow auf, ging in Rerik zur Schule und wurde 2010 mit 82 Jahren Ehrenbürger des Ostseebades. 2011 schuf Uecker ein Nagelbild, das zugunsten der Reriker Glocken sowie der erforderlichen Turmsanierung für 340.000 Euro versteigert wurde. Ostern 2013 wurden zwei neue Glocken mit von Günther Uecker gestalteten Motiven geweiht.
Eine kleine Ausstellung und Hinweistafeln stellen das Projekt vor.

Hätte jemand in dieser schlichten Backsteingotik-Kirche all dies erwartet?

 

 

 

Schreibe einen Kommentar